Die Situation dürfte vielen bekannt sein: Auf dem Nachbargrundstück wird ein Haus gebaut oder renoviert. Plötzlich entstehen Balkone, Erker, Dachvorsprünge oder andere Auskragungen, die sehr Nahe an die Grundstücksgrenze oder an das eigene Gebäude heranreichen. Wurden diese Gebäudeteile rechtmäßig gebaut?

Dort, wo es keinen spezifischen Durchführungsplan gibt, gibt der Bauleitplan (Gemeindeplan für Raum und Landschaft) die Grenz- und Gebäudeabstände vor. Für die meisten Zonen schreibt der Plan dabei einen Grenzabstand von mindestens 5 m bzw. einen Gebäudeabstand von mindestens 10 m vor.

Der Abstand wird ausgehend von den Umfassungsmauern des Bauwerks, einschließlich der vorspringenden Gebäudeteile, gemessen. Gerade was die „vorspringenden Gebäudeteile“ anbelangt, sehen die Bauleitpläne der allermeisten Südtiroler Gemeinden eine Ausnahmeregelung vor: Nicht berechnet werden Balkone, Dachvorsprünge, Erker, Gesimse und Vordächer bis zu einer Auskragung von 1,5 m. Diese Gebäudeteile können somit laut Bauleitplan auch in einem geringeren Abstand als 10 m zum nächsten Gebäude bzw. als 5 m von der Grenze errichtet werden.

Allerdings hat das Verwaltungsgericht Bozen unlängst mit zwei aufeinanderfolgenden Urteilen (Nr. 51/2020 und Nr. 66/2020) zum wiederholten Male erklärt, dass eine solche (in den Bauleitplänen vorgesehene) Ausnahmeregelung für vorspringende Gebäudeteile rechtswidrig ist und nicht zur Anwendung gebracht werden darf.

Laut dem Verwaltungsgericht sind all jene Gebäudeteile, welche die Nutzfläche oder Funktionalität eines Bauwerks erweitern, abstandspflichtig, weshalb auch alle Balkone, Vordächer, Dachvorsprünge usw. den 10-m-Abstand bzw. den 5-m-Abstand einhalten müssen. Lediglich jene Gebäudeteile, welche eine reine Zierde oder Dekoration darstellen, können von der Abstandsmessung ausgenommen werden.

Sieht daher das Bauprojekt meines Nachbarn die Errichtung von vorspringenden Gebäudeteilen in Unterschreitung der Grenz- und Gebäudeabstände vor, habe ich die Möglichkeit - innerhalb von 60 Tagen ab Kenntnis - dessen Baukonzession anzufechten. Ist hingegen die Frist für die Anfechtung der Baukonzession bereits abgelaufen, kann ich die Einhaltung der Grenz- und Gebäudeabstände (und somit den Rückbau der abstandsverletzenden Gebäudeteile) mittels einer Klage vor dem Landesgericht durchsetzen. Hierfür habe ich 20 Jahre ab der Errichtung des Bauwerks Zeit.

RA Alexander Bauer